Versuch über Accabadora von Michela Murgia
Das Buch „Accabadora“ von Michela Murgia handelt von Sterbehilfe in einem Dorf in Sardinien.
In einem wesentlichen Aspekt geht es in dem Buch um die Frage des offenen Geheimnisses in einer abgeschlossenen Gesellschaft, um ein Geheimnis, das alle kennen, aber als Geheimnis wahren, als Tabu behandeln.
Das selbstbestimmte Sterben, das wird in diesem Buch beschrieben, funktioniert oft nur, wenn jemand, die Accabadora, die undankbare Aufgabe der Hilfe übernimmt nach klaren – allerdings nur von ihr selbst bestimmten – Regeln. Alle kennen die Rolle der Accabadora, keiner spricht darüber. Das „Geheimnis“ bleibt bewahrt, obwohl alle es kennen. Denn jeder weiß, dass er oder sie in die Situation kommen könnte, auf diese Hilfe zurückgreifen zu wollen.
Ökonomisch gesprochen handelt es sich um ein typisches Problem von Gemeinschaftsgütern (Gemeingütern, Allmenden, Commons): Keiner wird von dem Gut (hier der „Dienstleistung“ Sterbehilfe) ausgeschlossen, aber die Bereitstellung funktioniert nach klaren Regeln in Gemeinschaften, die diese Regeln kennen, akzeptieren, weitergeben und durchsetzen. Je größer die Gruppe, umso größer die Gefahr, dass jemand die Regeln bricht, um individuelle Vorteile zu erlangen (Ausbeutung der Allmende). In diesem Falle, je größer und heterogener die Gruppe, desto größer die Gefahr, dass jemand das Geheimnis bricht. In einer informatorisch kaum noch abgegrenzten hoch vernetzten Gesellschaft kann der Gewinn des „Geheimnisverrats“ groß sein, der zwangsläufig die Dienstleistung unmöglich machen würde.
Die andere Seite der Medaille ist der Geheimnisverrat des Whistle Blowers, der kriminelle Machenschaften, Machtmissbrauch, Korruption etc. aufdeckt. Auch er (oder sie) zerrt ans Licht und zerstört, aber eben nur das Geheimnis einer kleinen Clique, die sich auf Kosten der Mehrheit bereichert, Macht missbraucht o. ä. Es handelt sich also nicht um das gemeinsame „Geheimnis“ der gesamten betroffenen Gemeinschaft, sondern um das einer selektiven Gruppe.